Die 90er Jahre - und die Rede ist von Kunst - sind seit ihrem Auftakt mit den 80er Jahren verknüpft, indem ihr Entwurf an das Ende dieser gekoppelt wird. Seit dem Golfkrieg konstruiert man so etwas wie die 80er, um sie zusammengefaßt zu verdammen und die 90er erfolgreich zu inaugurieren.
Eine künstliche und künstlerische Amnesie für scheinbar geläuterte, radikale Neuanfänge wird erlassen, die alle sofort sich vom Gespenst der 80er abgrenzen wollen. Neue Strategien, Namen und soziale Zirkel entstehen, ersetzen die alten, selbst wenn die Protagonisten nicht unbedingt bekannt zu sein brauchen. Mit großem Euphorismus und wenig Geld im Umlauf wird der Kunst neue Unmittelbarkeit und Potenz zugetraut und abverlangt. Die Kunstfelder verändern sich, die älteren Szenen schmelzen von der Oberfläche und konstituieren sich neu, die Einsätze werden bescheidener. Die Fest- und Powerparties bleiben vorerst aus. Produktionskosten werden auf die Künstler abgewälzt, was sie zwingt billig zu arbeiten.
Veränderung der Mode und Kunstakzeptanz bescheren eine neue Sensibilität und Bandbreite von Novitäten, die alle wie ohne Vorläufer auftauchen: Courier und American Type Writer-Schriftsätze sind ebenso wieder angesagt wie Surrealismus, Sex und Pop.
Wenn Sex in den USA noch aufgrund der politisch reaktionären, zensurbestimmten Zeiten als Provokationsgut gehandelt wird und politisch Sinn macht, so werden modifizierte europäische Varianten in den jeweils verschiedenen nationalen Couleurs visuelle Accessoires, die internationale Trends illustrieren. Penible Peinlichkeiten bleiben nicht aus. Leider werden hauptsächlich nur jene Karrieren gefeiert, die formal und parasitär Arbeitansätze ausnützen, die wirklich den Terror bestehender Sexualregime in ihrer heterosexuellen, sexistischen und rassistischen Normativität hinterfragen und unterlaufen. Fotografie wird verwendet, wenn auch nur selten aus Fachlabors.
Vor der Jagd nach dem Realen, das das Symbolische und Imaginäre verleugnet und verschluckt, bleibt nichts verschont: mit chirurgischen Selbstverstümmelungen und Amputationen von Gliedmaßen wird dem Körper auf den Leib gerückt und in die Kunst eingetrieben. Der Körper ist zum Maß aller Dinge geworden, die plötzlich privat, nichtig unscheinbar sein dürfen.
Narzißmus erhebt sich zur Erfolgsformel, Ideosynchrasien und Obsessionen zu Erfolgsmedien und Kristevas Abscheu(abject)artikel zur Referenzlektüre. Scheiße und andere Exkremente gesellen sich neben dem körperlichen Rest erneut zum Waren- und Sammelartikel. Phänomenologie feiert erneut Triumph.
Konzeptuelle Ansätze einer "Institutionskritik", die sich an einschlägige Zeitschriften, Institutionen und Persönlichkeiten klammern müssen, von denen diese publikumsarme und brotlose Kunst lebt, sind trotz ihrer internationalen Lingua Franca lokale Phänomene, die sich mit ihrer eleganten, eloquenten Arroganz entweder via Erfolg ad absurdum führen oder via Mißerfolg in den nächsten Produktionsschub stürzen, der so manchen Künstlern wieder neues Leben einflößt. Dort, wo die Praxis sich institutionalisiert und Schule macht, ist der kritische Dorn domestiziert, geknickt und lehrstuhlreif. Das Land, das Max Weber hervorbrachte, zeigt dafür größte Schwächen, ohne erst von seinem gleichsprachigen Nachbar zu reden.
Popular Culture, Punk und Bier werden als Kunstmedium, Kunstobjekt und Kunstsubjekt ebenso gefeiert wie kulinarische Zugaben, die das soziale Leben mit neuen gesellschaftlichen Banden und Galerien abstützen. Auch wenn es wahr ist, daß die Getränkerechnungen gewisser Blue Chip Galerien den Monatsetat einer neueröffneten Storefront Galerie in Woauchimmer übersteigt, so werden dort mit dem Einzug in die dominante Presse trotz dem British Working Class Outfit dieselben alten Exklusivitäsrituale praktiziert wie anderswo auch, wenn Erfolg hart anklopft. Die Dinners sind in Berlin nicht mehr in der Paris Bar, sondern beim Chinesen, Thailänder oder Türken. Bevorzugte Formalisierungen sind neben den übriggelassenen Bierflaschen Schnappschüsse, Videos und Schallplatten. Die Schnittstellen zum Trend sind Technosoundlaboratorien und andere Mixstellen, die wiederum den soziokulturellen und ethnospezifischen Charakter von Musikkonsumption und -produktion ignorieren. Weiße Gesichter mit schwarzen Kopfhörern.
Animiert werden will das nun teenage- und gen-X-orientierte Publikum und seine Institutionen mit aufblasbaren, anschmiegsamen Materialien, mit Damen und Herren in altmodischen Dressen, mit Crossdressern und Transsexuellen, mit Discosounds und Internetblasen, mit genobelter TV-Dummheit und flash-artiger Stupidity, mit buntem Inventar als Kunst, als Möbel, mit Clowns und Clones aus der Entertainer- und Containerwelt, mit Kunst von Künstlern und "Günstlern", die auf jeden Dekorations- oder Servicewunsch mit einer unverkennbaren Lösung aufwarten, ohne daß sie sich untereinander unterscheiden, mit Medien, die vom Zoo zum Klo, vom Hotel zum Bordell, vom Nordpol zum Interpol reichen, den ganzen Globus bis ins Weltall bereisen und zurück durch die Poren in die Haut, um DNS-Codes zu lesen und neuzuschreiben...kurz, eine Welt, die künstlicher ist als Kunst, die grüner ist als Gras und verrückter als Kühe.
Dieser Einfallsreichtum wird vor allem auch durch den involvierten Input der immer aktiver und intelligenter gewordenen Kuratoren mitbestimmt. Die sprunghaft angewachsenen Kuratoren. Kunst als neue, überall in Instituten und Programmen studierbare Disziplin verhilft mit seiner kleingeschriebenen, informierten und vielgereisten Arroganz dem pseudofunktionalen Kunstspektakel zu neuen temporären Glanz- karrieren. Objekt- und Konzeptschicksale zählen kaum. Der Zugriff auf alles, was irgendwann, irgendwo Sinn gemacht hat, wird bis ins Fanzine hinein cool gehandhabt. Wiedererkennungswerte erhöhen den Grad des Vergessens, um besser untergebracht zu werden. Einem "Was" wird weder von Künstlern noch von Kuratoren und Kritikern Fragen gestellt, höchstens dem Spektakel von Fragebögen ausgesetzt. Freudige Funktionsvermischung und Doppelhochzeiten eliminieren die Funktionen, die es eigentlich zu beweisen und auszuüben gelten sollte: Die Kritik ist als Teilnehmer auf dem Parkett, die Kunst als kurierte Krankheit in der Praxis schwach und lahm, und alle sind gesund und glücklich. Was gibt es hier noch zu beweisen oder zu befürchten? Was braucht es hier noch für eine kritische Distanz?
Was hat diese ungehemmte Aneignung von diesen in den meisten Fällen schon vorhandenen Modellen in so unverschämter Art und Weise ermöglicht? Warum sind nur selten historische Referenzen, geschichtliche und zeitgeschichtliche Relevanz für eine kritische Kunstproduktion und Rezeption maßgebend? Ist es Ignoranz, Schnauze- halten oder taktische Amnesie, die diese Retro-Aktivitäten völlig kontextlos und ungeschichtlich feiern? Oder ist es die traumatische Wende, die in der politischen Welt mit der Auflösung der Blocksysteme, dem Golfkrieg, der Jugoslawienkatastrophe, ethnischer, religiöser und rassistischer Polarisierungen, der ökonomischen, informatiellen, kaptitalistischen Globalisierung und Transnationalisierung sein Pendant hat?
Sicher ist, daß mit einer kurzsichtigen Konstruktion der 80er und deren Ausgrenzung eine kritische Aufarbeitung nicht nur der letzten Dekade, sondern der Vergangenheit an sich verunmöglicht wird. Das allerdings scheint die Bedingung für die naive, ungehemmte Aneignungspolitik der 90er geworden zu sein, eine Taktik, die vor zehn Jahren noch eleganter gehandhabt wurde. Die Konsequenzen auf der politischen Bühne dieser Strategien sind leider blutig und bekannt in Bereichen, die bis vor kurzem noch post-historisch gedacht wurden.
Stars sterben nie, solange das Firmament sie hält und sie künstlich von unten beleuchtet werden. Dasselbe läßt sich umgekehrt von Demokratie und ihrem Gebrauch sagen: Solange Menschen ihre Glühbirnen nicht andrehen, gibt es kein Licht, höchstens elektrisches Flimmern, was nicht Fernsehen bedeuten muß. Auf die Kunst übertragen heißt dies, daß jeder diejenige Kunst bekommt, die er erwartet, will und fördert. Das ist heute der Fall wie es auch vor zehn oder vor zwanzig Jahren der Fall war. Softmodern ist somit eine Produktionsform, die es immer geben wird, obwohl sie leicht auszuscheiden wäre. Dafür braucht es weder die 50er, die 60er, die 70er, die 80er noch die 90er Jahre.
Ein gesellschaftlich verantwotliches Verhältnis zu geschichtlichen Daten, zu sich selbst, zu anderen und zu seiner Umwelt scheint ein guter Anfang zu sein, Gegenwart weder gegen heterogene, hybride und komplexe Gegenwart, noch gegen vielschichtige Vergangenheit abzublocken. Die 90er Jahre gegenüber anderen Periodisierungen simplistisch zu stilisieren, zur Ware zu machen, um sie nach abgelaufenen fünfzehn Minuten erneut den Hunden zu füttern, ist ein Denken, Funktionieren, Produzieren, Kuratieren und Kritisieren, das immer nur das eine erzeugt: Wir warten auf etwas anderes.